Die andere Seite des Sorgentelefons
Es ist 8:30 Uhr. Ich habe mich mit meinem Sorgentelefon-Handbuch, einem Stift und einem Block in mein Arbeitszimmer zurückgezogen. Obwohl ich bereits seit drei Jahren als Beraterin am Bäuerlichen Sorgentelefon tätig bin, überkommt mich nach wie vor eine gewisse Anspannung. Viele Gedanken gehen mir durch den Kopf: Was wird der erste Anrufer oder die erste Anruferin erzählen? Welche Fragen wird die hilfesuchende Person stellen? Kann ich mich auf den Anrufenden einstellen, das Problem verstehen und durch gezielte Fragen neue Lösungsansätze finden?
Das Telefon läutet, ich hebe ab und begrüße meinen ersten Anrufer. Ich lausche in den Hörer und höre den Atem und leises Schluchzen. Zaghaft und mit einer versöhnlichen Stimme frage ich nach, wie ich helfen kann. Eine gebrochene Stimme auf der anderen Leitung fragt zögerlich, ob ich Zeit hätte. „Ich muss etwas loswerden, das ich noch nie jemandem erzählt habe und mir so schwer am Herzen liegt.“ So oder so ähnlich beginnen viele Gespräche.
Da auf bäuerlichen Betrieben meist mehrere Generationen zusammenleben und -arbeiten, ergeben sich daraus spezielle Herausforderungen und Probleme. Am Sorgentelefon nehmen wir uns Zeit für vertrauliche Gespräche über Vorkommnisse oder manchmal auch nur eine achtlose Aussage einer nahestehenden Person. Oft geht es um Verletzungen der Seele. Diese Verletzungen heilen besser, wenn sie versorgt werden. Die Versorgung kann durch das Reden geschehen. Als Beraterin am Sorgentelefon habe ich die Erfahrung gemacht, dass bereits während des Erzählens eine Erleichterung eintritt und sehr oft sogar Lösungsansätze entstehen. Meine Aufgabe als Beraterin besteht darin, diese Lösungsansätze aufzugreifen und nachzufragen, wie sie konkret aussehen könnten.
Psychosoziale Beratung bedeutet nicht, dass wir als Beraterinnen und Berater mit Ratschlägen die Probleme der Anrufenden lösen. Ganz im Gegenteil! Wir sind überzeugt, dass jeder Mensch Experte seines eigenen Lebens ist und am besten weiß, wie seine oder ihre Problemlösungen aussehen. Unsere Aufgabe besteht darin, zuzuhören und Fragen zu stellen. Wir haken mit unseren Fragen dort ein, wo die Anruferinnen und Anrufer bereits in ihren Erzählungen Lösungsansätze beschrieben haben, die sie jedoch noch nicht als solche identifiziert haben.
Alle Beraterinnen und Berater am bäuerlichen Sorgentelefon müssen eine Ausbildung zur psychosozialen Beratung abschließen. Diese dauert fünf Semester, ist intensiv und kostet viel Geld. Dennoch hat jede und jeder die Ausbildung in der Freizeit absolviert. Darüber hinaus sind alle Beraterinnen und Berater am Sorgentelefon entweder auf einem Bauernhof aufgewachsen oder leben derzeit auf einem Hof. Der enge Bezug zur Landwirtschaft ist wichtig, um die Probleme der Anruferinnen und Anrufer verstehen und nachvollziehen zu können.
Wie ist es für mich, anderen zu helfen? Es ist erfüllend und berührend zugleich. Die Dankbarkeit und Erleichterung in den Stimmen der Anruferinnen und Anrufer nach einem Gespräch sind unglaublich bewegend. Zu wissen, dass ich einen Beitrag dazu leisten kann, dass jemand wieder einen Weg sieht oder Unterstützung findet, ist ein Geschenk.
Oft rufen Menschen in akuten Krisensituationen an. Wir bieten emotionalen Beistand und unterstützen mit viel Empathie, um zu stabilisieren. Kontaktdaten von lokalen Einrichtungen haben wir immer griffbereit. Viele Gespräche enden damit, dass die Anruferinnen und Anrufer mit erleichterter Stimme sagen, dass sie wieder einen Weg sehen, wie es weitergehen kann, bzw. wo sie sich langfristig Hilfe von einer Organisation in der Nähe ihres Wohnortes holen können.
Es kann manchmal schwer sein, nicht zu erfahren, wie die Situationen der Anruferinnen und Anrufer sich entwickeln. Aber wir sind daran gewöhnt, dass unsere Rolle am Sorgentelefon darin besteht, einen Moment der Unterstützung und Begleitung zu bieten. Wir können nicht alle Geschichten zu Ende bringen, aber wir können einen Raum schaffen, in dem Menschen gehört und verstanden werden. Das Vertrauen, das uns entgegengebracht wird, ist etwas ganz Besonderes.